Literatur-Vestival in der Altstadtschmiede im Rahmen der Literaturtage Recklinghausen 2024
Hendrik Otremba: Wüstungen, Nebel: Gedichte
Seit 2010 ist der in Recklinghausen geborene Hendrik Otremba Texter und Sänger der Band „Messer“, der über vier Studioalben hinweg eine starke lyrische Qualität bescheinigt wurde. Musik und Lyrics zeugen von einer Eigenständigkeit, die viele nachfolgende Kunstschaffende geprägt und inspiriert hat. „Messer“ sind Kult. Zwischen Otrembas Büchern, seiner Musik und seinem künstlerischen Werk lassen sich dabei Leitmotive, Linien und alte Bekannte finden, die vielleicht in einem Songtext beginnen mögen, dann aber in der Prosa ihre Fortsetzung erfahren – oder die in Romanen entstanden sind, um sich schließlich im Gedicht zu transformieren.
Inhalt Benito:
1995 fährt der elfjährige Cherubim mit seiner Pfadfindergruppe auf eine dreiwöchige Kanufahrt einen westdeutschen Fluss entlang. Je weiter der Fluss sie trägt, desto verbundener fühlt sich Cherubim den anderen, desto mehr vergisst er sein Zuhause. Dort warten ohnehin nur seine frisch getrennten Eltern auf ihn, die Mutter überfordert, der Vater depressiv. Für den blinden Benito, mit dem er sich eines der Boote teilt, entwickelt er ein zunehmend obsessives Interesse.
Dann wird bei einem Unfall ihr Anführer getötet, woraufhin die Jungen die Flussfahrt ohne ihn fortsetzen. Immer tiefer geraten sie nun in eine verstörende Welt. Benito erfährt dabei eine radikale Wandlung: Aus dem stillen Jungen wird ein fatalistischer Prophet, ein blinder, apokalyptischer Seher.
Drei Jahrzehnte später ist aus Cherubim ein bekannter Schriftsteller geworden, der einer rätselhaften Einladung folgend nach Bonn kommt. Am Tag des Empfangs im bekannten Hotel Paradies stürmt ein maskierter Mann den Saal Eden, schließt die 300 Gäste darin ein und schießt minutenlang wild um sich. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden. Cherubim begreift schnell, dass das Attentat nur mit viel Pomp inszeniert ist. Und hat nicht Benito sein linkes Bein genauso nachgezogen wie der Attentäter?
In der Folge begibt er sich auf eine Spurensuche durch das Ruhrgebiet, reflektiert die Mythen der alten BRD und muss immer mehr feststellen, dass das öffentlichkeitswirksame Rätsel, dem er in Bonn beiwohnte, eng verwoben ist mit den Ereignissen seiner Kindheit. So wird die Suche nach der Wahrheit auch eine Suche nach seiner eigenen Vergangenheit.
Hendrik Otremba war mit seinem dritten Roman Benito zu Gast in seiner Geburtsstadt Recklinghausen. Am 26. Januar 2023 fanden die Lesung und das Gespräch mit Stephan Schröder (Vorsitzender der NLGR) in der Stadtbibliothek statt.
Information des März Verlages zu dem Buch: „Das eigene Erinnern befragend, wirft Hendrik Otremba uns mit diesem Roman in die Grotesken der Gegenwart, an die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit.“
„Doch, ich muss mit der Anreise beginnen. Dort schon hat es begonnen, oder nicht begonnen, vielmehr: sich fortgesetzt, dort jedenfalls ist etwas wieder aufgekommen, um mich herum aufgezogen, eine dunkle Aura, oder passender: ein schwarzer Nebel. Etwas, das, mir unsichtbar, immer dagewesen sein mag, sich aber nun erst offenbart, schleichend und unausweichlich.“
Das ist der Anfang des ersten Kapitels des Romans, in dem er geschickt die Zeitebenen und Realität und Fiktion verbindet. Die Flussfahrt, die er selber erlebt (erlitten?) hat, war in der Realität 1998, sein Fahrtenname damals Harlekin. Im Roman geht die Pfadfindergruppe 1995 auf eine dreiwöchige Kanufahrt. Alle tragen klingende Namen, wie Kippe, Maus und Fliegentöter. Den Anführer, ein paar Jahre älter als sie, nennen sie Häuptling. Die zweite Erzählebene, über 30 Jahre später, spielt erstaunlicherweise in naher Zukunft, im Jahr 2026.
In beiden Ebenen folgen wir hauptsächlich dem Erzähler Cherubim, der ein bekannter Schriftsteller geworden ist, beide Ebenen unterscheiden sich sprachlich deutlich voneinander. Ohne zu sehr zu spoilern, der Autor erzählte es selbst in Andeutungen, bleibt es nicht so gemütlich und harmlos. Es geschehen – sehr spannend beschrieben – schreckliche Dinge, damals und auch jetzt (2026). Wie im Bonner Hotel Paradies vom blinden Benito (inzwischen ein fatalistischer Prophet und apokalyptischer Seher), ein Anschlag verübt wird, dessen Verfolgung im Gebäude – und gleichzeitig über einen Fernsehsender auf der ganzen Welt im Internet – gesehen werden kann, ist genial beschrieben und an Dramatik kaum zu übertreffen. In sieben Kapiteln lässt uns Otremba zwischen den Geschehnissen wechseln.
Sehr geschickt finde ich die Schwärzung der bekannten Persönlichkeiten, die vorkommen; auf diese Weise sind sie gewissermaßen anonym, aber doch zu erkennen (zu erahnen?). Das für Recklinghausen Besondere sind die vielen eingeschobenen Szenen, die hier in dieser Stadt spielen. Auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit begleiten wir den Autor, der eigentlich keinen Lokalroman schreiben wollte, und den Namen der Stadt im Buch nicht erwähnt, an uns sofort bekannte Stellen.
Da sind etwa das Südbad oder der Stadtteil Hochlarmark, in dem Otrembas Oma einen Laden betrieben hatte. Das Rathaus und der Besuch mit dem Vater auf der Trabrennbahn, das ehemalige Kino „Capitol“ hinter dem Hauptbahnhof und die Besuche mit der Familie in der Gaststätte „Auerbachs Keller“ lassen Recklinghäuser Herzen (wehmütig?) höherschlagen.
Ein besonderer Genuss für das Publikum war die Lesung einer Buchstelle über die Wanderung von Recklinghausen nach Gladbeck. Detailverliebt und sehr poetisch geschrieben, folgten die Zuhörer in diese vertraute Umgebung, was zu der Idee aus dem Publikum führte, diesen Weg einmal gemeinsam zu erwandern.
Otremba spart nicht mit Persönlichem: Er schreibt auch über die Trennung seiner Eltern, den Tod des Vaters und die Beziehung zu seinem jüngeren Bruder. Gewidmet hat er „Benito“ seiner Mutter. Sie war bei dieser Lesung zu Gast, und auch einige andere Freunde aus der Zeit der Kindheitserzählung. Sogar der „Häuptling“ war da, höchst lebendig.
Bestens gelaunt plauderte Hendrik Otremba im gut besuchten Saal (40 Besucher) mit Stephan Schröder über seine Arbeitsweise, wie sich Ideen entwickeln, wie die Dynamik des Prozesses niemals stillsteht und unruhig macht. Eindrucksvoll war vor allem zu hören, wie die beiden zunächst einzeln geschrieben Stränge durch eine rettende Idee: „Ich habe die Zeitebenen in gleich große Teile aufgeteilt und ineinander kippen lassen,“ zusammenkamen. Dadurch fanden sie zu einem glücklichen Miteinander.
Zur Person: Hendrik Otremba, geboren 1984 in Recklinghausen, ist ein Multitalent. Er ist Schriftsteller, bildender Künstler und Sänger der Gruppe Messer (mit dieser Gruppe hat er bisher fünf Alben veröffentlicht), außerdem arbeitet er als Dozent für kreatives Schreiben und gelegentlich als Kurator. 2017 ist sein Debütroman Über uns der Schaum (Verbrecher Verlag) erschienen, im August 2019 folgte sein zweiter Roman Kachelbads Erbe (Hoffmann und Campe). Und nun hat der März Verlag (Berlin) sein drittes Buch Benito verlegt.
In Recklinghausen besuchte Otremba die Gudrun-Pausewang-Grundschule und das Theodor-Heuss-Gymnasium. In seiner Jugend war er freier Mitarbeiter der Recklinghäuser Zeitung. Er studierte Germanistik und Medienwissenschaften in Bochum, und ab 2008 Kulturpoetik in Münster. Seit 2016 lebt er mit seiner Partnerin und der dreijährigen Tochter in Berlin.
Hendrik Otremba, Jahrgang 1984, ist ein Recklinghäuser Multitalent: Er ist Sänger der Rockgruppe „Messer“, bildender Künstler, Dozent für kreatives Schreiben, Journalist und Schriftsteller. Vor allem sein zweiter Roman, „Kachelbads Erbe“ (2019), hat ihn bekannt gemacht.
Jetzt liegt sein dritter Roman vor: „Benito“ – und Otremba wohnt (leider, aus unserer Recklinghäuser Sicht) in Berlin, wie viele andere AutorInnen auch. Dort ist auch sein Verlag, der MÄRZ-Verlag, zu dem er jetzt gewechselt ist.
Aber er erinnert sich durchaus an seine alte Heimat; das Ruhrgebiet, vor allem Recklinghausen und Gladbeck, spielen eine große Rolle in seinem Roman. Hier kennt er sich auch aus.
Der Roman spielt im Jahre 2026 auch an anderen Orten, z. B. in Bonn, wo sich ein schrecklicher, vermutlich terroristischer Vorfall bei einem Empfang des Deutschen Wirtschaftskomitees ereignet, zu dem der Ich-Erzähler, Cherubim, aus Italien angereist ist. Dieser Cherubim, in der Erzählgegenwart ein bekannter Schriftsteller, war zusammen mit dem blinden Benito, Ugur, Kippe, Maus und Fliegentöter und einem fast erwachsenen „Häuptling“ als Gruppenführer im Jahre 1995 auf einer abenteuerlichen Flussfahrt mit Kanus unterwegs. Sie nannten sich „Die schwarzen Steine“. Die Pfadfinderromantik mutiert bald zu einem Horrortrip. Diese Erinnerung an die verschworene Gemeinschaft der Jungen bei der Flussfahrt vor dreißig Jahren und die Freundschaft zwischen Cherubim und dem blinden Benito bilden je eine Ebene des Romans. Hier liegen auch die Anfänge für die fatale Entwicklung Benitos zu einem blinden apokalytischen Seher, der mit seinen herausgeschrieenen Monologen seine Umwelt provoziert.
Cherubim begibt sich schließlich auf eine Erkundungstour ins Ruhrgebiet, wandert von Recklinghausen nach Gladbeck-Scholven, um die letzten Jahre seiner Kameraden und vor allem die von Benito zu recherchieren. Otremba berührt eine Menge aktueller Themen in seinem Roman, wie Terrorismus, Identität, Lebensangst, Traumatisierung, Rassismus, Einsamkeit, Depression, Tod und Suizid. Wie sein großes Vorbild, der Filmemacher Tarkowski, habe Otremba „ein Händchen für prägnante Bilder und atmosphärisch aufgeladene Schauplätze“, schreibt Anja Kümmel in ZEIT ONLINE.
Moderation: Stephan Schröder
Der Vorverkauf beginnt ca. am 17.12.22, Reservierungen sind ab sofort möglich.