Literaturnacht 2024 – Laudationen

Die Jury der Lite­ra­tur­nacht 2024 hat in die­sem Jahr einen ers­ten und zwei zwei­te Plät­ze ver­ge­ben sowie vier Aner­ken­nungs­prei­se. Hier die Lau­da­tio­nen der Jury:

Heiner Schröder – Platz 1

Des Boo­mer­bu­ben Wun­der­born: Abschwei­fun­gen trost­pflas­tern sei­nen Weg. Eine Kuriose

Die­ser Text ist zunächst schwer ein­zu­ord­nen; er beginnt wie ein Essay, der sich mit der Wir­kung des Schreib­im­pul­ses aus­ein­an­der­setzt, wan­delt sich zu einer auto­fik­tio­na­len
Erzäh­lung, in der Autor, Prot­ago­nist und Erzäh­ler teil­wei­se ver­schmel­zen und streut dann lyri­sche Pas­sa­gen in der Form des Lime­ricks ein. Die­se erlau­ben es, in iro­ni­sche Distanz zu sich selbst und sei­nem Text zu gehen. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass der Erzäh­ler bzw. Spre­cher im Gedicht zu der Gene­ra­ti­on der soge­nann­ten Baby­boo­mer gehört, also der Gene­ra­ti­on der zwi­schen 1945 und 1965 Gebo­re­nen.
Er reflek­tiert einen Lebens­lauf, erfah­re­ne Erzie­hungs­ma­xi­men und einen zum Teil pre­kä­ren Sta­tus im Kon­text der his­to­ri­schen Ent­wick­lung. Inso­fern ist der Text sehr viel­schich­tig.
In bis­wei­len selbst­ge­fäl­li­ger Manier prä­sen­tiert der Text Bele­sen­heit und klas­si­sche Bil­dung. Das wird aber meist ele­gant über­spielt durch die vie­len Wort­spie­le, Ver­glei­che und Meta­phern, die die iro­ni­sche Distanz zu sich selbst zu Komik wan­deln.
Der Text amü­siert in sei­ner Wort­akro­ba­tik und Artis­tik. Er ist in hohem Maße ori­gi­nell in Inhalt, Form und Sprache.

Marcel Ifland – Platz 2

Der Über­fall

Was für eine skur­ri­le Situa­ti­on wird da ima­gi­niert! Drei jun­ge Leu­te wer­den in einem Park von einem mas­kier­ten und mit einem Mes­ser bewaff­ne­ten Mann über­fal­len. „Geld und Han­dy !“ for­dert der, wird aber von den drei­en nicht recht beach­tet. Sie strei­ten statt­des­sen mit­ein­an­der, ob und war­um die­ser Umweg über­haupt nötig war. In einem sprit­zig-wit­zi­gen Schlag­ab­tausch, im Lau­fe des­sen sie sich selbst als „sym­pa­thisch sozio­pa­thisch“ bezeich­nen, reagie­ren die drei auf die­sen Über­fall, als gin­ge es um einen kri­sen­haf­ten Moment in „Mas­ters of the Uni­ver­se“, „Grey’s Ana­to­mie“ oder irgend­ei­nem Game. Es gelingt ihnen, den Mann mit der Sturm­mas­ke wie auch uns Leser der­art zu ver­blüf­fen, dass der Über­fall eine völ­lig uner­war­te­te Wen­dung nimmt.
Hier über­zeug­te vor allem der obsku­re Ein­fall der Geschich­te sowie der tro­cke­ne Humor in jugend­li­chem Slang mit sei­nen zahl­rei­chen, häu­fig iro­ni­schen Bil­dern wie „glit­zer­staub­kot­zen­de Ein­hör­ner“. Die Dia­log­par­tien sind gelun­gen, pas­sen zu den skiz­zier­ten Figu­ren in ihrer lako­ni­schen Kür­ze, und die Span­nung auf den Aus­gang die­ses unglei­chen Duells mit dem düpier­ten Räu­ber löst sich erst in der Schluss­poin­te. Sie lässt uns mit einem ungläu­bi­gen Schmun­zeln zurück.

Markus Jöhring – Platz 3

Der Traum, der dach­te , er sei ein Pferd

Es han­delt sich um einen for­mal unge­wöhn­li­chen Text, der in acht Abschnit­te unter­teilt ist, die abwech­selnd pro­sa­nah, dann in dra­ma­ti­schen Dia­lo­gen gestal­tet sind und dem Leser ein Umden­ken abver­lan­gen.
Star­ke Bil­der eröff­nen bereits am Beginn des Tex­tes die Per­spek­ti­ve auf den Tod der Mut­ter. Ellip­sen im Stak­ka­to las­sen die Geschwin­dig­keit füh­len, die den Sohn zur toten Mut­ter treibt.
Er flieht vor der rou­ti­nier­ten Ver­wal­tung des Ster­bens durch Poli­zei und Not­fall­seel­sor­ger.
Es folgt ohne Über­gang ein Rück­blick auf den unheim­li­chen Dia­log mit der demen­ten Mut­ter. Und schließ­lich ist da die Außen­welt mit ihren pro­fa­nen Ange­bo­ten des Super­mark­tes im Gegen­satz zur gefühl­ten Klein­heit des Ichs in einer Papier­tü­te auf dem Lauf­band, zu klein, nicht feu­er­fest, zu klein wie das Leben. Immer wie­der geht es um das Ster­ben, um Urnen. So zer­ris­sen, wie der Text erscheint, scheint auch das geschil­der­te und zum Teil geträum­te Leben, „bis ich den­ke, ich selbst bin das Pferd, die Kraft“. Das Ergeb­nis ist offen, eben ein Traum.

Anerkennungen

Die Linie von Jochen Mariss

Eine abson­der­li­che Erb­schafts­ge­schich­te von einem Mann, der einen Tun­nel durch­lebt hat und nun mit der Aus­sicht auf eine geerb­te Woh­nung Licht am Ende die­ses Tun­nels sieht. Die Bedin­gung des ver­stor­be­nen Groß­va­ters erscheint abstrus, soll aber in dem jun­gen Mann wohl Krea­ti­vi­tät und Mut för­dern. Mit der Krei­de­li­nie über Flur und Trep­pen­stu­fen stößt er auf eine Frau im sel­ben Haus, mit der wohl eine Freund­schaft oder mehr ent­ste­hen könn­te. Das legt das Ange­bot der Kurz­for­mel für den – jüdi­schen Namen – Joshua, Josh, nahe. Es ist eine berüh­ren­de Geschich­te mit hoff­nungs­vol­lem Ende. Die Spra­che ist sehr behut­sam und gefühlvoll.

Her­an­wach­sen geht nur auf Umwe­gen von Sigu­ne Schnabel

Die­ser höchst poe­ti­sche Gedicht­zy­klus über Geburt, Kind­heit und jugend­li­ches Rin­gen um Iden­ti­tät geht bis zur Ahnung von Sterb­lich­keit, die einer sol­chen Suche schon immer imma­nent ist.
Der Text erzeugt durch sei­nen Rhyth­mus und die inein­an­der ver­schwim­men­den Farb­bil­der schon beim ers­ten Lesen und wahr­schein­lich noch mehr beim Hören einen Sog, der an tie­fe mensch­li­che Emo­tio­nen rührt.
Hier spricht ein lyri­sches Ich, das von sei­ner ers­ten Lebens­stun­de an auf der Suche nach sei­nem Wesens­kern ist, der aber abweicht von dem, was die Welt da drau­ßen von ihm erwar­tet und bietet.

Wo Bir­ken wach­sen auf Gebäu­den – Umwe­ge auf der ehe­ma­li­gen Koke­rei Han­sa von Anna Liedtke

Da begibt sich jemand auf das 10 ha gro­ße Gelän­de der ehe­ma­li­gen Koke­rei Han­sa in Dort­mund, die 1992 still­ge­legt wur­de und nun ein Indus­trie­denk­mal ist. Über drei­ßig Jah­re konn­ten sich also Pflan­zen und Tie­re dort rege­ne­rie­ren und wie­der ansie­deln.
Als pro­sa­na­hes Gedicht schil­dert der Text, wel­che Pio­nier­pflan­zen und Pil­ze dort in den Res­ten der Indus­trie­ge­bäu­de und ‑land­schaft wach­sen, wel­che Vögel und vor allem Schmet­ter­lin­ge dort in den ver­schie­de­nen Jah­res­zei­ten zu fin­den sind. Der Text strotzt mit sei­nen Kennt­nis­sen von Flo­ra und Fau­na, bleibt nicht bei All­ge­mein­plät­zen ste­hen.
In wei­te­ren Abschnit­ten erin­nert der Text an die Arbeit und das Leben auf dem „Pütt“.
Ein Spa­zier­gang an der rena­tu­rier­ten Emscher, der ehe­ma­li­gen Ruhr­k­loa­ke schließt den Text ab.
Mit dem Erzäh­ler nimmt der Leser / Hörer alles wahr, was an Pflan­zen, Tie­ren, Geräu­schen, Unrat und Müll in unglaub­li­chem Durch­ein­an­der wahr­nehm­bar ist. Es ent­fal­tet sich ein Bild, ein Pan­ora­ma einer Land­schaft, die müh­sam um ihre Wie­der­ge­burt ringt. Hier sind die Begrif­fe und Bezeich­nun­gen anein­an­der­ge­reiht, wie das Auge und das Ohr sie beim Spa­zier­gang wahr­neh­men, ohne Punkt und Kom­ma, ohne Syntax.

Irr­licht und Fix­ster­ne von Sarah Roguschke

Die­se Urlaubs- und Lie­bes­ge­schich­te einer pre­kä­ren Bezie­hung auf Bali, in einer eigent­lich roman­ti­schen Umge­bung, die zu Har­mo­nie und frei­er Lie­be ein­zu­la­den scheint, atmet von Beginn an eine gewis­se ahnungs­vol­le Deka­denz. Die Haupt­fi­gur ist ein im Beruf gestress­ter Mann, der der schmut­zi­gen Zivi­li­sa­ti­on um ihn her­um über­drüs­sig ist. So bucht er locker einen Flug nach Bali, der idea­li­sier­ten Feri­en­in­sel.
Aber dies Para­dies erscheint brü­chig: Kon­do­me, Sprit­zen, Scher­ben… Dann kommt es zur Begeg­nung mit einer ver­flos­se­nen Lie­be, der „Laza­rus-Lady“, die er abser­vie­ren möch­te, die aber mehr­fach erklärt: „Ich blei­be!“ Sie lan­den neben­ein­an­der im Bett und „atmen syn­chron“, was auch immer das bedeu­ten mag.
Der Text über­zeugt mit star­ker Bild­lich­keit und spar­sa­mer Erzähl­wei­se über die fak­ti­schen Vor­gän­ge und baut eine hohe Erwar­tungs­hal­tung auf.